Kleiner Gedanke


Am Himmel wandert zwischen Sternen und Monden ein kleiner Gedanke, der sehnsüchtig auf die Erde schaut. Er hat schon so viel vom Treiben auf der Erde gehört. Er weiß nicht, wie er sich dort einmischen soll, niemand fragt nach ihm, niemand ist auf den Gedanken gekommen, ihn um seine Meinung zu bitten.

Wenn mich niemand kennt, gehe ich zu den Menschen, setze mich auf ihre Schultern und erzähle von mir. Ganz neugierig pressen sie dann Worte aus mir heraus. Unbekanntes wird schaubar, die Menschen wollen immer sehen, greifen nach Schicksalen, beleuchten Ecken und Kanten, reißen Spinnweben von den Balken, pulen mit den Fingern Risse in Tapeten auf, um auch noch die unterste Schicht nach Geheimnissen zu untersuchen.

Der Aufklärungsdrang überwältigt sie, lässt sie vergessen, dass sie das Leben eines anderen Wesens den Augen und Ohren preisgeben, offen darlegen. Sobald ein Fünkchen brauchbaren Materials entdeckt ist, gibt es kein Halten, keinen Aufschub. Hier und jetzt wird gebuddelt, bis die volle Wahrheit an der trockenen Luft der Sensation zur bleichen Materie erstarrt, pulverisiert, neue Rätsel aufgibt.

Dieser Eigenschaft bediene ich mich, gebe ihr Nahrung, schön dosiert, wie es dem eigenwilligen Esel ergeht, der den Karren seines Herrn nicht ziehen will, dem an einer Angel eine Möhre vor den Augen baumelt, die ihm angemessene Bereitschaft und Ausdauer schenkt, nur nicht die Möhre. Sie ist gedacht für das Ende der Dienstfahrt.

Auf diese Weise erfahren die Menschen von mir und ich mehr von ihnen. Vielleicht ist ein Mensch darunter, der mich überzeugt, meine Gedankenwelt aufzugeben und Mensch zu werden. Gleich bei meiner Gedankenwerdung las der große Gedanke die Möglichkeiten meiner späteren Entfaltung vom Geburtsschein ab und vor.

Darauf steht geschrieben, dass ich kleiner Gedanke bleiben dürfe, wenn ich es wolle, großer Gedanke werden könne, Gedankenleser, Gedankenweltenkundler, Gedankenblitz…, aber auch die Erlaubnis zur Fleischwerdung, also Menschwerdung beinhalte.

Ich beginne, mir das Leben auf der Erde vorzustellen. Eine Nacht gebe ich mir zum Überlegen, dann setze ich mich zum Mond, meinem Freund. Wenn die Sichel einer Schaukel gleicht, hüpfe ich von einem Stern auf die Mitte der gewölbten Mondspitze, bitte aber vorher um Erlaubnis. Wenn ich nicht mehr weiter weiß, verkrieche ich mich bei meinem Freund, er weiß immer einen Rat. In seinen gelben kugelrunden Ballon passen die seltsamsten Ideen. Bestimmt ist diesmal auch für mich wieder die richtige Lösung dabei. Wenn es soweit ist, nimmt er seine dünnen Ärmchen, greift hinter sich und wühlt in einem Berg von Weisheiten und liest einen Vorschlag nach dem anderen vor. Mit bedächtigem Augenaufschlag versucht dieser gutmütige Mann, kleine Tipps zu geben. Z. B.: Das ist ein guter Vorschlag. Oder: Davon lass die Finger! Wenn er schmunzelt, greife ich zu. Das ist dann der beste Vorschlag, den er zu bieten hat. Ja, so wird es gemacht. Ganz aufgeregt bin ich, kann keinen ruhigen Gedanken fassen.

Mit einem großen Sprung hechte ich mich auf den Schaukelteil des Mondes, ziehe mich zurück in eine Nische, bedecke meine Gedanken mit Sternenstaub, erwidere das Augenzwinkern meines Freundes, des Mondes, mit einem Lächeln und lausche dem kristallklaren Geigenstrich, wenn Sternenspitzen beim Wiegen in den Schlaf sanft anstoßen. Das klingt zart wie das Wehen zwischen Blättern der Windharfen. Er hechtet.

Dann ist der kleine Gedanke einfach eingeschlafen.

Am nächsten Morgen, schon sehr früh, wacht der kleine Gedanke auf.

Jetzt will und muss er den Mond um einen klugen Rat bitten.

Also fragt er:

„Lieber, guter Mond, was soll ich tun? Ich möchte zur Erde fliegen, möchte Mensch werden. Ist das klug, was hältst du davon?“

Der Mond ist nicht ganz unvorbereitet. Seit Tagen beobachtet er den kleinen Gedanken, wie er sehnsüchtig seine Blicke wieder und wieder auf den blauen Planeten richtet, als wollte er sich dort einmal umsehen.

„Gefällt es dir hier nicht mehr?“, fragt der Mond.

„Doch, doch. Hier ist es wie immer. Ich warte aber auf ein ganz großes Ereignis, wie man es nur einmal im Leben antreffen kann. Es passiert nichts, gar nichts. Es sieht aus, als müsste ich hier ewig so herumtrödeln.“

„Was heißt das, herumtrödeln?“

„Ja, es ist langweilig, ehrlich gesagt, langweilig.“

„Ach so.“

„Ja.“

Schon sieht der kleine Gedanke, wie sein Freund, der Mond, mit seinem rechten Ärmchen hinter sich in den Ballon greift. Er wühlt und wühlt, zieht bedächtig einen bekritzelten Zettel mit einem Ratschlag hervor. Ob das der Ratschlag ist, der sein Leben verändern wird?

Die Miene des Mondes deutet nichts Außergewöhnliches an. Er legt den Zettel zurück, greift sich einen neuen. Der kleine Gedanke fixiert das Gesicht des Mondes. Nein, wieder nichts Besonderes. Zum dritten Mal langt der Mond in den gelben Ballon. Der kleine Gedanke hält den Atem an.

Ja, er schmunzelt, dieses Mal schmunzelt der Mond über den verbliebenen Rest der Sichel. Das ist eine gute Nachricht. Der kleine Gedanke hält wieder den Atem an, denn nun verliest der Mond das Geheimnis.

„Kleiner Gedanke, wenn ich diese Zeilen lese, nehme ich gleichzeitig Abschied von dem Gedanken, dass mich ein kleiner Wicht in der nächsten Zeit besuchen wird. Ja, du sollst ruhig einem versuchen, das Erdenleben auszuprobieren. Ich habe den besten Zettel gefunden, den es gibt, denn du darfst zurückkommen, wenn du enttäuscht den Kopf hängen lässt, traurig bist, wenn es dir überhaupt nicht gefällt auf der Erde.“

Jubelnd tanzt der kleine Gedanke bis auf die Nasenspitze des Mondes. Der Mond lacht, doch es ziehen Falten über das Mondgesicht.

„Stelle dir das nicht zu einfach vor! Du wirst ganz gefangen sein von der Fülle der Möglichkeiten. Auch wenn es dir nicht mehr zusagt, wirst du schlecht einen Grund finden, wieder Ade zu sagen. Weil du aber rundherum glücklich sein musst, um überleben zu können, du ein höflicher, kleiner Gedanke bist, ist schon jetzt fraglich, ob du den Absprung schaffst. Sei also auf der Hut vor allzu viel Höflichkeit und habe keine Hemmungen, NEIN zu sagen!“

Der kleine Gedanke wird nachdenklich. Er speichert die Mahnungen des Mondes deutlich erkennbar in seiner Gedächtniswelt. Dann bedankt er sich bei ihm und sagt Lebewohl.

Langsam, mit frischem Mut segelt der kleine Gedanke hinab und die Erde. Es ist für ihn nicht so umständlich wie für die Menschen, die erst in eine Kapsel steigen müssen, um mit viel Brimborium endlich hochgejagt werden zu können.

Kurz vor der Landung entdeckt der kleine Gedanke auf einer Wiese spielende Kinder. Das fängt ja gut an, die sind freundlich und fröhlich miteinander. Hier wird es mir gefallen. Sacht treibt er auf die Gruppe zu.

Ich werde mich gleich vorstellen. Gesagt, getan: „Hallo, ich bin der kleine Gedanke. Ich möchte mich vorstellen.“ Die Kinder hören gar nicht zu. Er wiederholt seinen Gruß. Nichts. Jetzt dreht sich ein kleines Mädchen um: „Wer hat hier gerufen?“

„Ich, der kleine Gedanke.“ Das Mädchen sieht nichts, denkt, dass es sich wohl getäuscht habe, und spielt weiter mit den anderen.

Die mögen keine kleinen Gedanken. Na ja. Sie sind ja auch so beschäftigt. Ich werde es woanders ausprobieren.

Er geht entlang auf der Straße. Hier fahren Autos vorbei, Menschen hasten von einer Seite auf die andere. „Wnn ich nicht aufpasse, komme ich unter die Räder.“ In diesem Moment läuft ein alter Mann direkt auf die Straße. Es kommt ein Auto. Der kleine Gedanke ruft ganz laut: „Passen Sie auf, kommen Sie zurück, Sie werden überfahren!“ Der Fußgänger hört nicht und läuft geradewegs vor das Auto. Bremsen quietschen. Der alte Mann wird zurückgeschleudert auf den Gehweg, er rührt sich nicht mehr. „Haben Sie mich denn nicht gehört? Ich habe Sie gewarnt.“ Der Verletzte hebt nun ein wenig den Kopf, greift sich daran und ahnt Schreckliches. Ich bin verrückt geworden, ich höre Stimmen und mein Bein tut auch weh. Er lässt sich zurückfallen, ergibt sich in sein Schicksal.

Das macht den kleinen Gedanken nachdenklich. Dieser Mensch mag auch keine kleinen Gedanken. „Ich werde es woanders versuchen“, tröstet er sich.

Er hastet fort. Nun gelangt er auf den Wochenmarkt. Schon vor der Biegung hört er ein fürchterliches Zetern. Was ist da los? Warum schimpfen die denn so? Viele Leute drängeln sich an den aufgebauten Ständen vorbei. Stände mit Obst, Gemüse, Fisch, Käse, Kräutern und Blumen. Es riecht gut hier. Aber dieser Lärm! Die Marktfrauen dürfen heute ihre Ware, ihr Sortiment, laut ausrufen. Einmal im Jahr darf hier jeder alles anpreisen. Das weiß der kleine Gedanke natürlich nicht. „Meine Güte, geht es hier rund“, wundert er sich. Er setzt sich einer Frau auf die Schulter und versucht, sie ein wenig zu beruhigen: „Nicht so laut, gute Frau, man sieht doch Ihre Ware! Schreien Sie doch nicht so! Das sieht doch jeder, wie schön glänzend das Obst aussieht und frisch der Fisch!“

Die Frau ist so erregt und launisch, sie hört den kleinen Gedanken überhaupt nicht. Das fehlte ihr gerade noch, so ein Klugscheißer, der ihr das Geschäft verderben möchte. Sie hörte da wohl etwas, aber sie traut ihren Ohren nicht.

Wieder ist der kleine Gedanke enttäuscht: „Niemand hört mir zu oder hört auf mich. Ich meine es nur gut mit diesen Zweibeinern.“ Er lässt jetzt tatsächlich den Kopf hängen und ist ganz traurig. Mutlos schaut er nach oben und denkt: „Der Mond hat Recht. Hier ist nicht meine Welt.“ Ohne zu überlegen schlägt er die Richtung nach oben ein. Es dauert auch nicht lange, schon sitzt er beim Mond auf der Sichel. Bis er mitteilen kann, was ihm widerfahren ist, vergeht eine Weile. Der Mond hört sich alles gut an und holt die Geburtsurkunde hervor.

„Vielleicht haben wir etwas falsch gemacht. Ich schaue rasch nach, was so alles darauf geschrieben steht. Das ist ja schließlich so etwas wie eine Gebrauchsanweisung.“ Der Mond liest alles durch und fängt plötzlich an zu lachen: „Wir haben die Beschwörungsformel vor Antritt der Reise auf die Erde vergessen. Hier steht geschrieben: Wenn „Himmelskörper“, die wir ja sind, Verlangen haben, der Erde einen Besuch abzustatten, müssen sie dreimal um den Mond schweben und neunundneunzig Mal rufen: ‚Ich will, ich will, ich will.‘ Man sieht uns sonst nicht.“

„Das haben wir total vergessen.“

„Willst du, kleiner Gedanke, denn noch einmal zurück zur Erde, ich werde dich um mich schweben lassen und ein Auge auf dich werfen, damit zu auch neunundneunzig Mal den Zauberspruch ausrufen wirst?“

„Nein“, ruft da der kleine Gedanke ganz laut, „ich will überhaupt nicht mehr auf die Erde, so gut hat es mir nun wirklich nicht gefallen! Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht!“

Erleichtert faltet der Mond den Geburtsschein zusammen, klopft dem kleinen Gedanken auf die Schulter.

Er ist ein weiser Mond.


© Margit Farwig

Aus meinem Buch: „Gezeiten ritzen Haut“


 
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