Großes Glück

Großes Glück
Du hattest großes Glück, so die allgemeine Überzeugung, als ihr Auto nach einem Unfall nur noch schrottreif abgeschleppt werden konnte. Sie hatte großes Glück, denn alle Knochen waren heil geblieben. Lediglich eine starke Prellung am Brustbein erinnerte sie noch mehrere Wochen an diesen Unfall.
Das große Glücksgefühl fand aber keinen Zugang in ihr Innerstes. Sie musste mit Erschrecken feststellen, dass jede Regung in ihr ausblieb. Weder Entsetzen noch Freude stellten sich als Reaktion auf das Geschehene ein. Lediglich die Überzeugung, dass nichts ohne Grund im Leben passierte, kreiste unablässig in ihrem Denken. Der Körper war unbeschadet geblieben. Der Körper, der im Alltag seine Funktionen zu erfüllen hatte. Aus dieser Sicht war das Glück sehr groß, denn sie konnte die Alltagsgeschäfte aufnehmen, ohne anderen zur Last zu fallen.
Doch die Frage, nach dem Warum wollte sie sich beantworten können.
Den Hergang konnte sie klar nachvollziehen. Völlig übermüdet, angefüllt mit belastenden Gedanken wollte sie nur noch ihren Sohn abholen. Schnell sollte es gehen. Zu schnell war sie gewesen in der Kurve. Auf dem Asphalt standen noch große Pützen vom letzten Regenguss. Mit etwas überhöhter Geschwindigkeit nahm sie die Kurve großzügig und konnte dem entgegenkommenden Auto nur noch durch eine heftige Rechtssteuerung ausweichen. Bruchteile von Sekunden, das Auto prallte an die Straßenböschung. Ein Krachen, ein Knirschen und Bersten der Windschutzscheibe. Der Wagen überschlug sich und blieb auf dem Dach liegen. Licht ausmachen, Scheibenwischer abstellen, Motor abstellen.
Der nächste Gedanke: „Wie befreit man sich kopfüber aus dem Autositz, ohne größeren Schaden zu nehmen?“ In einer Fernsehsendung hatte sie diese Übung vor langer Zeit verfolgt. Abstützen, Gurt lösen und auf dann möglichst ohne größeren Aufprall auf den Untergrund rutschen. Der Schmerz in der Brust war heftig. Doch es gelang ihr. Vorbeikommende Autofahrer hatten sich bereits um die Unfallstelle geschart und regelten das Nötigste. Sie funktionierte wie ein Roboter, hatte nur Sorge um den Sohn, den man verständigen müsse. Ansonsten wolle sie nur nach Hause.
Eine gefühlsmäßige Regung blieb aus. Keine Tränen. Sie wusste, Tränen hätten ihr gutgetan. Doch es blieb alles eingefroren. Wer hätte ihr die Tränen getrocknet? Die Tage danach waren geprägt durch eine grenzenlose Erschöpfung und der Sorge um die Wiederbeschaffung eines neuen Autos. Das Leben im ländlichen Bereich gestaltete sich beschwerlich, ohne eigenes Fortbewegungsmittel. Es ließ sich alles regeln. Sie brachte die Energie auf, obwohl sie gerne die Last verteilt hätte. Nach einer Woche stand das neue Auto vor der Türe. Lediglich die starken Schmerzen in der Brust erinnerten sie an das Unglück, bei dem sie so großes Glück hatte. Der Alltag konnte in seinen gewohnten Bahnen weitergehen.
Aber sie wollte begreifen, warum sie so leichtfertig mit ihrem Leben umgegangen war. Ihre damalige Fahrweise geprägt wurde von einer Aggressivität, die schon länger in ihr arbeitete. Lebensumstände, nicht beeinflussbare Situationen das wusste sie, stellten sie unter Druck. War es ihr nicht möglich gewesen, sich anders zu wehren? Das Unterbewusstsein ließ sich nicht steuern. Es nahm sich seinen Raum entweder in Träumen oder in Alltagsabläufen, die nicht zu kontrollieren waren. Diese Zäsur wollte sie als Gelegenheit nutzen, um Abläufe zu ändern, die ihr Schaden zufügten.

 

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