Der kleine Ball

Ein kleiner Ball wurde als einer von vielen Bällen in einer großen Fabrik geboren. Es gab unzählig viele dieser kleinen Bälle und einer glich dem anderen. Der kleine Ball sah sie an, aber er konnte kein Lebenszeichen erkennen, niemand sprach mit ihm, niemand schien mit ihm spielen zu wollen, er fühlte sich unter seinesgleichen so unendlich verloren.

Eines Tages kamen alle Bälle auf einen großen Lastwagen und er hörte, wie die großen Wesen mit den zwei Beinen darüber sprachen, dass er und seine Familie in große Geschäfte verladen werden sollten. Was sie damit meinten, war ihm nicht klar, jedenfalls machte ihm das Angst und er fragte seine Brüder: „Habt ihr auch Angst?“ Aber ihre Antwort war nur Schweigen. Hatten sie denn alle keine Gefühle? Hatten sie keine Sinne, keine Augen, keine Ohren, kein Gespür, nichts? War er der einzige Ball, der denken, reden und fühlen konnte?
Jedenfalls kam der Moment: sie wurden alle auf einen großen Wagen geladen. Wohin es ging, konnte er nicht ausmachen, denn alles war dunkel um ihn herum, er war eingesperrt in einem Gefährt, was sich scheinbar sehr schnell fortbewegte. Und plötzlich hielt dieses unheimliche Ding, was die Zweibeiner LKW nannten, an. Er hörte, wie sie sagten: „Lasst uns eine Rast machen in einem billigen Lokal.“ Die Türe wurde kurz aufgerissen und das war der Moment für unseren kleinen Ball. Er dachte sich: „Egal, was passiert, ich muss hier raus.“ Und er rollte sich blitzschnell aus der unheimlichen Gefangenschaft heraus.
Er hatte sich die Welt und die Menschen in seinen Träumen so schön vorgestellt, eigentlich war er ja noch ein Ball-Kind, wenn er auch mit einer Intelligenz ausgestattet war, die für seinesgleichen unüblich war. „Spielen möchte ich, mit Kindern spielen“, dachte er.

Um sich herum vernahm er laute schrille Geräusche, gleißendes Licht, alles um ihn herum war hektisch und so unglaublich fremd. Dennoch versuchte er es: „Komm, spiel mit mir!“, sagte er leise zu einem Passanten, der eilig seines Weges ging. Aber dieser stieß ihn nur ärgerlich von sich. Dennoch merkte der kleine Ball, dass er rollen und hüpfen konnte, aber er stellte sich seine Aufgabe anders vor, fröhlicher und behutsamer.
Dann hörte er plötzlich einen unangenehmen Kraftausdruck, der ihn störte. Er verstand den Ausdruck nicht, spürte nur, er war nicht schön gemeint, danach vernahm er noch: „Da hat man es schon so eilig und da fliegt einen noch so ein blödes Ding entgegen.“ Und dann spürte er einen Tritt, der sehr weh tat und er flog in eine Ecke. Und dann begann ein Spiel mit ihm, das die die unangenehmsten Vorstellungen, die er jemals haben könnte, übertrafen. Er wurde getreten, geschleudert, mit Verachtung übersäht. Er spürte, wie er immer schmutziger und verletzter wurde, sein Glanz schien dahin zu sein und sein Traum auch. Der Traum zu spielen und der Traum anderen zur Freude geboren zu sein, verblasste.

Als er so traurig in der Ecke lag und dachte, dass sein ganzes Dasein umsonst war, dass er nur eine Kreatur war, die man verkaufen oder verspotten konnte, bemerkte er auf einmal eine kleine Hand. Er konnte nicht zuordnen, wer oder was ihn so zärtlich umfing. Es war die Hand eines kleinen Jungen mit blonden Locken und, wenn er auch nicht wusste, warum er diese Gabe hatte, er konnte verstehen, was der Kleine sagte. Waren es dessen Worte? War es sein Herz? Der kleine Ball verstand. Das Kind sagte: „Was bist du doch für ein schöner Ball, mit dir kann man ja spielen. Warum liegst du denn hier so herum? Komm, lass uns spielen.“ Behutsam wurde er aufgehoben und getragen. Irgendwas in ihm sagte ihm: „Ich brauche jetzt keine Angst mehr haben“ und so ließ sich der kleine Ball tragen, ohne sich im geringsten zu wehren.
„Komm“, hörte er die schöne Stimme, „hier ist es nicht schön, wir gehen zu Feldern und Wäldern und dort werden wir spielen.“ Wie in Trance ließ der Ball alles mit sich geschehen.
Auf einmal sah er so etwas so Wunderschönes, wie er noch nie gesehen hatte und hörte die Stimme des Knaben: „Siehst du, hier sind Felder, hier sind Blumen, die Sonne scheint, es ist Ruhe, niemand hastet und hetzt, hier wollen wir spielen.“ Und der Junge ließ den kleinen Ball einen Hügel hinunterrollen, erst rollte er langsam, dann schneller, schneller und schneller. Er war in einem Glückstaumel. Schnelligkeit war nun keine Hast, es war Ausdruck des überschäumenden Glücks. Und das Kind lief hinter ihm her und lachte, sein Lachen erinnerte an kleine silberhelle Glöckchen. Als sie unten im Tale angekommen waren, waren beide aus der Puste, aber sie waren glücklich. Der Junge nahm den Ball behutsam in seine Arme. Und dann sahen sie kleine Mädchen, die Blumen pflücken. „Spielt ihr mit uns?“, fragte der kleine Junge. Die Mädchen kicherten erst etwas verlegen, aber dann willigten sie ein. Und dann begann ein fröhliches Spiel. Der kleine Ball wurde von Hand zu Hand geworfen und hörte fröhliches Lachen. Er merkte seine Bestimmung und sah sein Glück vor Augen.
Nachdem sie eine Weile gespielt hatten, sagte sein kleiner Freund: „Ich nehme den kleinen Ball mit und werde ihn erst mal wieder schön sauber machen, ihr lieben Mädchen. Spielen wir morgen wieder zusammen?“ Die Mädchen waren einverstanden und das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

© Elfie Nadolny

 

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