Zornig wie der Erzengel

 

Gabriel irrt durch Straßen, die nun fremd für ihn sind, Straßen ohne Mitleid. Was wussten sie von seinem zerfetzten Herzen, von Worten, die er nie hätte aussprechen dürfen? Er wollte Martina verletzen!

Vor sechs Monaten sah er sie. Es war ihm, als stehe er vor einem Modekatalog, die Models begannen zu laufen, zu lachen und zu flirten. Martina kam direkt auf ihn zu, ein Funke – und zwei Herzen standen in Flammen. Sie lief ihn fast um, denn er war fest verbunden mit dem Asphalt. Stotternd entschuldigte sich Gabriel, im Kopf wirbelte alles durcheinander.

Ihr Gesicht gleicht einem Meisterwerk. Ihre beseelten Glasmurmelaugen rollten Ziel gerade in eine tiefe Mulde, in sein Herz. Es bebte. Er beschloss, die Glasmurmelaugen nie mehr wegzulassen. Seine Lungen füllten sich langsam wieder mit Luft, Freude erfasste ihn, unkontrollierte Sprechblasen mündeten in einen mühelos ausgesprochenen Satz: „Sie schickt mit der Himmel, gestatten, Gabriel, ein soeben aus allen Wolken gefallener Erzengel.“

Plötzlich bleibt Gabriel stehen und wischt sich den Schweiß vom Gesicht, es ist heiß. Vom Spielplatz im angrenzenden Park hört er Lachen und Schreien von spielenden Kindern. Da er nur in sich selbst hineingehört hatte, bemerkte er nicht, dass er mitten in eine Idylle hineingeraten war, die ihm immer Freude bereitet hatte. Heute will er sich lieber die Ohren zustopfen.

Mütter tragen fröhlich ihre Kinder von einem Spielgerät zum anderen, kosten frisch gebackene Sandkuchen und entlohnen die Kleinen mit einem Aufschrei des Entzückens, um dafür selbst auch noch gedrückt zu werden.

Das ist zu viel für Gabriel. Hier tollen Fleisch gewordene Träume in bunter Verpackung. Sein Traum endet an Schaukeln und Sandkästen. Schnell dreht er sich zur Seite und beginnt wieder zu laufen. Er sieht nicht die wunderschönen Blumenrabatten rechts und links am Wegrand, nicht die Wasserfontänen zwischen den Grünstreifen. Das bunte Sommerbild ist für ihn verdunkelt, ausgelöscht.

„Ich habe Martina vertraut wie keinem Menschen zuvor“, denkt er, „warum hat sie mir nicht anvertraut, dass sie einen anderen Mann mehr liebt als mich, warum erzählt sie nicht von ihm? Ich hätte um sie kämpfen können. Heute stehe ich vor vollendeten Tatsachen. Eigentlich weiß ich wenig über sie, hatte sie diesen Mann schon geliebt, als sie mich kennenlernte? Wollte sie mich nur so, einfach nur zum Spaß?“

Gabriel läuft immer schneller. Er rempelt einen jungen Mann an, entschuldigt sich, ohne hinzuschauen, läuft weiter. Der junge Mann will etwas erwidern, erkennt aber, dass hier ein ziemlich verwirrter Typ seine Runden dreht. Er tippt auf Liebeskummer.

„Wenn ich sie nur hätte ausreden lassen“, fällt ihm immer wieder ein. „Sie wollte sich verteidigen. Ich hätte nicht so reagieren dürfen. Aber, ich war zu, einfach zu. Blind vor Eifersucht.“

Vor seinen Augen läuft ohne Pause der gleiche Film ab: Martina auf den Stufen des Flugzeuges. An ihrer Seite ein gut aussehender Mann. Er legt seinen Arm um ihre Schulter. Gabriel glaubt zu sehen, dass er sie an sich drückt. Eine so vertraute Geste. Die beiden verschwinden in der geöffneten Tür.

Gabriel wollte Martina „Auf Wiedersehen“ sagen. Sie wusste nichts von seinem Vorhaben, konnte sich also ganz unbeobachtet fühlen. Wahrscheinlich setzten sie sich jetzt auf zwei nebeneinanderliegende Plätze, um möglichst eng zusammen zu sein. Sicher würde Martina ihren Kopf an seine Schulter lehnen, wenn sie müde würde. So, wie sie es bei ihm getan hat. Er kochte vor Wut, ihm wurde schwarz vor Augen. Drei Tage wollte sie unterwegs sein. Jetzt würden ihr die drei Tage auch noch zu kurz vorkommen. Die Tür wurde geschlossen, das Flugzeug hob ab. Motorenlärm quälte sich in seine Seele.

Mitten im Laufen hält Gabriel an. „Es ist sinnlos, davonzulaufen“, schreit er sich an, „kämpfe um die Frau, jage die tollwütige Eifersucht zum Teufel!“ Er dreht sich um und beschleunigt seine Schritte. „Vielleicht ist es noch nicht zu spät, so erschrocken und verletzt kann nur ein Mensch reagieren, der sich keiner Schuld bewusst ist.“ Er läuft wie um sein Leben.

Martina ist fassungslos. Sie umklammert die Stuhllehnen, steht auf, setzt sich wieder, Gabriel hat ihr gerade ins Gesicht geschleudert: “Schlaf doch mit Wind, es ist aus!“

„Ich liebe ihn doch“, denkt sie, „wenn er mich anschaut, versinke ich in seinem Blick wie Plankton im Krater der Seeanemonen, um nie wieder aufzutauchen.“ Martina wird bewusst, dass sie ihre Arme ausgebreitet hält, doch Gabriel ist nicht mehr da.

Auch bei ihr setzten Herzschläge zeitweise aus, stolperten, suchten nach Fluchtwegen. Da war nichts zu machen. Beim Leuchten seiner stahlblauen Augen verlor sie jegliche Orientierung. Sie ließ sich hineinfallen, eingefangen von seinen verschmitzt angeordneten Lachfältchen.

Das ist er, der Mann, auf den ich lange gewartet habe. Seine Worte holten sie in die Wirklichkeit zurück: „Erzengel, Wolken?“ Sie hörte sich sagen: „Martina, mit beiden Beinen fest auf der Erde stehend, durchaus bereit, Sie von der Straße aufzulesen und erste gemeinsame Gehversuche mit Ihnen anzustellen.“

Woher nahm sie den Mut, trotz ihrer weichen Knie so einfallsreich zu kontern? Das Gebot der Stunde! Sie lachten sich die Verwirrung aus dem Gesicht.

Martina hat sich inzwischen soweit beruhigt, dass sie einen klaren Gedanken fassen kann. „Warum habe ich Gabriel nicht gleich gesagt, dass ich dieses Mal von einem Kollegen begleitet werde?“ denkt sie. „Die Verhandlungen würden besonders schwierig sein, da war ich ganz froh, nicht allein die günstigsten Bedingungen herausarbeiten zu müssen. Gabriel weiß doch, dass ich im Reisebüro tätig bin, dass ich auch hin und wieder in die Ferne geschickt werde, um neue Quartiere für Kunden zu erforschen, eventuell auch gleich Abschlüsse zu tätigen.

Ich kann besonders gut mit Menschen umgehen, sie von Nutzen und Vorteil überzeugen und auch hochgeschraubte Forderungen auf Normalmaß herunterzudrücken. Ich freue mich immer gerade auf diese Reisen, sie geben mir die erhoffte Bestätigung.

Außerdem ist mein Kollege noch zwei Wochen auf der Insel geblieben, um dort zu entspannen, sich von seiner überstandenen Krankheit ein wenig zu erholen.“ „Ich liebe meinen Beruf“, sagt Martina in die Stille hinein.

Endlich fühlt sie sich wieder gestärkt. Sie steht auf, glättet ihren Rock, läuft ins Bad, frischt ihr Gesicht auf. Sie will kämpfen. Ein letzter Blick in den Spiegel gibt ihr recht, so kann sie nicht weiterleben.

Die Tür fällt ins Schloss. Martina stürmt die Stufen hinunter und prallt mit der Hitze zusammen. Ohne zu wissen, welche Richtung sie einschlagen soll, nimmt sie den Weg, den sie am häufigsten mit Gabriel gelaufen ist, und sie schaut nicht nach rechts und nicht nach links. Einfach weiter.

Abgehetzt hält Martina einen Augenblick an, holt tief Luft. Ihre Augen sehen nur in die eine Richtung: Wo ist Gabriel?

Sie setzt erneut an, wird immer schneller, obwohl die Sonne erbarmungslos vom Himmel brennt und die Bäume an dieser Straßenseite dünn belaubt sind.

Die Kraft schwindet allmählich aus den Muskeln, Martina ringt nach Luft, sucht nach einem Halt. Wie von Geisterhand fangen sie zwei kräftige Arme auf, drücken sie fest, und eine Stimme beschwört sie, sie möge aus ihrer Ohnmacht aufwachen.

Gabriel, der Martina entdeckt hatte, sah, dass sie, seine Martina, am Ende ihrer Kräfte angelangt war und gleich umfallen würde. Mit zwei Schritten erreichte er sie und fing sie im letzten Moment auf.

Glücklich presst er sie an sich. Jetzt wird alles wieder gut. Martina fühlt, es ist kein Traum, die geliebte Stimme am Ohr holt sie zurück. Jetzt wird alles wieder gut.

© Margit Farwig

ohne Ende … Eine Anthologie DruckFest e. V. Literaturwerkstatt der VHS Rheine

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