Das Wesentliche

„Das Wesentliche“, Kapitel aus dem Roman-Manuskript Wüste

als Mahal Ute-Maria Graupner


DAS WESENTLICHE

...Schweigend gehen sie zum Friedhof. Kein Schatten weit und breit. Alles ist wie erstarrt. Die Europäerin sieht sie vor sich, diese lebendige Frau, mit ihren offenen Blick und ihre agilen Bewegungen. Dass Großmutter wirklich tot ist?
Der Friedhof ist ein Sandterrain, das von ein paar wenige Drähte umgrenzt ist. „Weshalb der Zaun?“ fragt Esthes.
„Gegen wilde Tiere.“ Omar deutet auf eines der kargen Gräber. Keine Pflanze, kein Baum, kein Schatten. Alles gelb in gelb. Grabhügel reiht sich an Grabhügel. Einfache, graue Steine und Gefäße ohne Blumen ragen aus den Hügeln. Sie sind gegen den Durst der Toten mit Wasser gefüllt. An ihrer Stelle wird es von Vögeln getrunken. Um den Stein von Großmutters Grab ist ein Schal gewickelt. Auf der Spitze steckt eine Mütze. An manchen Steinen sind Tücher befestigt. Stofffetzen bewegen sich, wenn sie ein Windhauch streift.
„Was sind das für Stoffe?“
„Es sind Kleidungsstücke, die die Toten getragen haben,“ flüstert der Freund.

Esthes kniet im Sand nieder. Omar lässt sich etwas entfernt zu Boden. In Stille teilt sich die Trauernde der Großmutter mit. Sie spricht von ihrer Bewunderung, von dem, was sie alles durch die Großmutter gelernt hat, vom Sein, einem Sein ohne Gedanken. Dass sie ihr Vorbild für eine reife Frau ist, die ihr Herz ein Leben lang offen gehalten hat. Dass es das noch gibt, woran sie in Europa schon nicht mehr glauben konnte. Dass sie es ausgerechnet in großer Armut gefunden hat, in der ein so anderer Reichtum herrscht.
Esthes erinnert sich, wie sie die alte Dame das erste Mal gesehen hatte, damals mitten in der Wüste. Es war das Licht des Frühjahrs gewesen. Obwohl Hitze schon das Leben bestimmte, war die Klarheit des Frühlings noch da. Sie hatte das ärmliche Zeltdorf kennen gelernt. Die gewebten Zelte waren mit Plastiktüten geflickt. Wie viele Beduinen verbrachte Großmutter in dieser Einfachheit diese Jahreszeit, draußen in der Weite des Sandes. Wie damals als es noch keine Schulpflicht gab, und die ganze Familie in der Wüste zu hause war.
Die beiden Frauen hatten sich zum ersten Mal angeschaut. Ihr, der Europäerin, schossen Tränen in die Augen. So viel Offenheit im Blick war sie nicht gewöhnt. Sie schämte sich in der Gegenwart der Großmutter. Denn diese musste spüren, dass Esthes ihre Offenheit bereits verloren hatte. Nackt und bloß hatte sie sich gefühlt. Keine Fassade konnte den warmen Augen von Großmutter standhalten.

Esthes dankt nochmals für die Ziegenmilch, die sie damals bekommen hatte und die trotz Wüstensonne so kalt und frisch war. Sie berichtet, von den heimlichen Versuchen mit ihren Blicken das Innere des Zeltes zu erkunden. Wie sie ihre Überraschung zu verbergen versuchte, dass direkt neben dem Lager, wo sie Platz genommen hatten, durch ein paar Äste getrennt die jungen Zicklein und ihre Mütter lebten.
Sie war damals so müde gewesen von den durchwachten Nächten mit Omar und traute sich nicht, sich auf der Decke auszubreiten, die als Sitzgelegenheit diente. Dankbar war sie, als Großmutter ihr sagte, dass sie ruhig ein wenig ruhen könnte. Mit wendigen Bewegungen am Boden hatte die alte Beduinin ihr ein Kissen untergeschoben. Die müde Frau hatte gerade noch die muntere Plauderei gehört, wie gut die Gurken schmeckten, die sie und Omar der Großmutter mitgebracht hatten. Bis die Geborgenheit, die sich durch die ruhigen Stimmen ausbreitete, sie allmählich schläfrig machte.
Eine alte Beduinin schob die Zeltplane beiseite. Esthes schreckte aus ihren Träumen hoch. Die verschlafene Frau reichte die Hand. Der Blick der Alten fiel auf das Kleid von Esthes. Die Knöpfe hatten sich während des Schlafs gelöst. Man konnte ihre Brüste sehen. Die Europäerin wäre am liebsten im Sand verschwunden. Nackte Haut galt als unschicklich bei den alten Beduinen. Aber die Großmutter hatte nur gelacht, genauso wie Omar. Und Esthes hatte einfach ihr ockerfarbiges Kleid wieder zugeknöpft vor den verwunderten Augen des Gastes. Ja, das Kleid habe sie immer noch, erzählt Esthes der Großmutter. Es ist in der Kiste mit ihren Sachen gewesen, die Omar für sie aufbewahrt hatte. Und sie trage es diesmal wieder in der Wüste, obwohl der Stoff schon ganz mürbe sei.
Esthes denkt zurück, wie Omar und sie beschlossen hatten, zusammen zu bleiben. Als sie sich damals von der Großmutter für den Heimflug verabschiedet hatte, schaute sie lange traurig und glücklich auf Esthes. Wegen ihr würde Omar sich den Traditionen entziehen. Aber es war klar, dass Großmutter ihn seinen Weg gehen ließ, denn sie liebte.

Kein orientalischer Traum, der in Esthes herum geisterte. Kein Film mehr, den sie einmal gesehen haben könnte. Die Trauer holt sie zurück in die Wirklichkeit von Liebe und Schmerz, von Nähe und Wärme. Sie hatte ihre Vergangenheit verleugnet, zu hause die Liebe verraten. Tränen der Dankbarkeit, der Bewunderung und des Abschieds lassen sie erkennen.
Großmutter ist nicht mehr da. Esthes kann nicht mehr in ihre Hütte gehen und sich mit ihr auf Arabisch unterhalten, was sie ja eigentlich gar nicht kann. Sie kann keine Massage mehr mit Großmutter machen, wenn sie sich verspannt fühlt. Großmutter wird sie nicht mehr behandeln, wenn sie wieder einmal Durchfall hat wegen ihres europäischen Magen. Esthes wird diese sonderbare Heilmethode nicht mehr lernen, die nur mit einem Stock und einem Tuch durchgeführt wird.

Wieso liegt dieser wunderbare Mensch unter einem bescheidenen Sandhügel. Keiner der wichtigen Leute in Europa hatte Großmutter je kennen gelernt. Alle wollen doch dort immer mit wichtigen Menschen zusammen sein. Wieso geht Großmutter unbedeutend wieder, obwohl sie doch mehr Bedeutung hatte in Esthes Leben als je ein Politiker? Wie soll sie die Welt je verstehen? In ihren Augen hätte dieser Frau die Ehre eines Staatsbegräbnis zuteil werden müssen. Oder vorher schon eines der besten Krankenhäuser der Welt. Welcher Gott auch immer Großmutter geholt hat, manch anderen, der sich in Selbstgefälligkeit am Leben hält, den lässt er bleiben. Esthes Weinen wird zum Sturzbach, durch den die ganze Unbegreiflichkeit dieser Welt wieder aus ihr heraus fließt und unter der Hitze der Sonne verdunstet. Immer wieder klopft sie den Sand von Großmutters Grab glatt, wie eine Mutter die Decke ihrer Kinder, wenn sie im Winter frieren. Esthes steckt eines dieser von Sand und Wind glatt geschliffenen Hölzer in Großmutters Grab. Sie weiß ja, dass Esthes immer solche Gegenstände sammelt.

Die Zeit steht still. Esthes ist ganz ruhig. Ihr Schluchzen ist verklungen. Omar nimmt wortlos ihre Hand und hilft ihr hoch. Hand in Hand gehen sie ohne ein Wort zu verlieren durch die heiße Wüstensonne ins Dorf zurück. Der dunkelhäutige Freund schenkt ihr sein Schweigen. Wie schon so oft, weiß er alles, ohne das einer dieser einfachen Sätze in einer fremden Sprache gewechselt wird.
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Copyright 2010/ Ute Maria Graupner

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