Abschied von Grossvater von NormanW
Fiktive Erzählung eines 10jährigen Jungen, der an der Beerdigung seines geliebten Grossvaters teilnimmt.
Grossvater würde jetzt sagen: „Ein schöner Tag um zu verduften“. Obwohl er es einigen ausgesuchten Anwesenden durchaus gegönnt hätte, wenn der Himmel über dem Friedhof etwas weniger strahlend blau ausgefallen wäre. Aber zu schlechtes Wetter hätte dann auch wieder seinem Ego geschadet, denn, wer weiss, am Ende wäre das Publikum zu seinem letzten Auftritt nicht so zahlreich auf-marschiert ?
Das halbe Dorf ist da. Allen voran der Gemeinderat. Der „Plapper-Verein“, vollzählig versammelt. Respekt vor der Obrigkeit, erst recht vor politischen Würdenträgern, war nicht Grossvaters Disziplin. Eigentlich hatte er in dieser Hinsicht nicht viele Disziplinen.
Neben dem Gemeinderat, in Tränen aufgelöst, Tante Martha, Grossvaters letzte noch lebende Schwester. Meine Patentante. Ausgerechnet. In ihren schwarzen Kleidern und dem übergrossen Hut wirkt sie noch arroganter und zugleich noch langweiliger als sonst. Obwohl das schwer vorstellbar ist. Ihr Mann, der Fritz, ist auch da. Natürlich in unmittelbarer Nähe von Tante Martha. „Die muss auf ihn aufpassen wie ein Schiesshund“, hat Grossvater immer gesagt. „Wenn der die Flucht ergreift, bekommt die keinen mehr ab“.
Der Pfarrer spricht. Oder besser, er versucht es. Das Mikrofon ist offenbar nicht richtig eingestellt. Der Friedhofsgärtner hilft, und bald wendet sich der Herr Pfarrer erneut an die Gemeinde. Er verliest Grossvaters Lebenslauf. Wozu eigentlich ? Wer Grossvater nicht kannte, wird auch nicht an der Beerdigung teilnehmen, oder ? Und wer ihn kannte, der weiss das, was der Pfarrer da herunterliest, schon lange. Manchmal sind die Erwachsenen seltsam. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, sind meine Gedanken schon die ganze Zeit über nicht bei den Worten des Pfarrers, sondern bei Grossvater. Schade, dass er jetzt schon sterben musste. Obwohl, er war doch immerhin schon 83. Nach den Worten meiner Mutter „ein schönes Alter“. Wie meint sie das ? Ein schönes Alter zum Sterben ? Also ich möchte gerne 100 Jahre alt werden. Ob es dann noch schöner ist zu Sterben ?
Da fällt mir eine kleine Geschichte ein. Eine Geschichte, von denen es noch sehr viele zu erzählen gäbe. Vor drei Jahren, im Religionsunterricht, hat uns der Pastoralassistent etwas mitgegeben: „Glauben heisst, nicht Wissen“. Das leuchtete mir ein. Und weil es mir so gut gefallen hatte, wollte ich auch meinen Grossvater an dieser weisen Erkenntnis teilhaben lassen.
- „Glauben heisst nicht Wissen“
verkündete ich beim nächsten Besuch im Altersheim. Ich war stolz auf mich, dass ich die Worte meines Lehrers so gut behalten konnte. Ich hatte es also verstanden. Sehr gut. Grossvater lächelte. Doch die Art und Weise, wie er lächelte verriet mir, dass er diese meine allerneueste Erkenntnis im nächsten Augenblick in Frage stellen würde. Das liebte ich an ihm. Grossvater nickte.
„Das klingt gut, ja. Es stimmt aber nicht.“
- „Nicht ? Warum nicht ? Wenn ich es aber nun nicht weiss, dann kann ich es doch nur glauben.“
Ich hatte natürlich erwartet, dass Grossvater einen Einwand äussern würde. Aber jetzt hatte er es wieder einmal geschafft, mich vollends zu verwirren.
- „Im Grunde ist es ganz einfach. Aber ich habe selbst auch Jahre gebraucht, bis ich es verstanden habe.“
Mein ungläubiges Staunen liess ihn sogleich fortfahren.
- „Weißt du, mein Kind, wer ganz stark und aus tiefer Ueberzeugung an etwas glaubt , stellt fest, dass dieser Glaube auf wundersame Weise zur ganz persönlichen Wahrheit wird.
- Die Wahrheit aber ist greifbar. Du erkennst sie. Und etwas zu erkennen ist gleichbedeutend mit Wissen. Verstehst du ?“
Ich bin nicht sicher, ob ich damals tatsächlich alles so genau verstanden habe. Aber es gefiel mir, wie Grossvater die Dinge immer wieder hinterfragte.
Mir scheint, der Pfarrer ist fertig. Die Mitglieder des Kirchenchores schieben sich vor den Sarg. Die bringen jetzt ein letztes Ständchen. Also doch noch. Alles rechnete damit, dass sie nicht singen würden. Grossvater und der Kirchenchor hatten sich schon vor Jahren überworfen. Sicher: Für viele im Dorf war er ein komischer Kauz. Ein Querdenker. Etwas unbequem, ganz bestimmt. Und doch mochten sie ihn. Krumm genommen haben sie ihm nur, dass er nach mehr als 30 Jahren aus dem Kirchenchor ausgetreten ist. Von einem Tag zum andern. Nicht etwa aus gesundheitlichen Gründen, nein. Er hatte wohl nur wieder ein wenig zu quer gedacht. Das Repertoire des Kirchenchors zeitgemässer zu gestalten, das war dann doch etwas viel verlangt in einem Dorf, in dem der Stammtisch noch regelmässig besetzt und der Frauenverein keine Nachwuchsprobleme zu verzeichnen hatte. Als er dann auch noch öffentlich bekannte, dass die Mitglieder des Kirchenchors mehr Staub als Töne hervorbrächten, verspielte er seinen letzten Kredit.
Nun aber singen sie. Für mich wirkt es etwas kitschig. Aber das liegt wohl daran, dass sich ein Zehnjähriger in seiner Vorliebe für Musik nicht unbedingt am örtlichen Kirchenchor orientiert. Der Friedhofsgärtner im Hintergrund zieht mein Interesse auf sich. Was macht denn der da ganz hinten an der Mauer ? Und was ist das für eine Maschine ? Da scheint irgend etwas verrutscht zu sein. Es sieht aus wie eine Plane oder so etwas. Ja, so ist es, und die Bemühungen des Friedhofsgärtners, diese wieder vollständig über die wunderliche Maschine zu ziehen führen zu einem Malheur, das zu seinem Glück kaum beachtet wird. Die Plane rutscht vollends zu Boden. Zum Vorschein kommt ein winzig kleiner Bagger. So einen habe ich noch nie gesehen. Wozu der wohl gebraucht wird, auf dem Friedhof ? Einen Bagger braucht man doch zum Löcher graben. - Löcher ? - Gräber ! Die heben die Gräber doch tatsächlich mit einer Maschine aus ! Einen Augenblick lang bin ich sprachlos. Was nicht eben oft vorkommt. Aber eigentlich ist es auch egal. Grossvater wird es bestimmt nicht stören. Schliesslich hat er ja selber sein Leben lang auf Baustellen gearbeitet.
Der Gesang verstummt. Die Zeremonie neigt sich ihrem Ende zu. In der Verwandtschaft entsteht Unruhe, und es beginnt ein hektisches Tuscheln und Flüstern. Ich verstehe nur bruchstückhaft, worum es geht. Scheinbar hat Tante Simona die Liste vergessen, auf der vermerkt worden ist, wer zum Leichenschmaus eingeladen wird, und wer nicht. „Typisch meine Schwester“. Mutter ist sichtlich nervös. Nicht, dass man einen Anverwandten aus finanziellen Gründen nicht am Mahl wollte teilhaben lassen, Gott bewahre. Aber es geht schliesslich auch darum, dass im angemieteten Saal nur eine beschränkte Anzahl Sitzplätze vorhanden sind. Und da gilt es, die Gäste mit der gebotenen Sorgfalt auszuwählen. Am besten hätten sie zu Lebzeiten wohl Grossvater um eine Liste gebeten. Ich bin sicher, ein Vierertisch hätte dann völlig ausgereicht. Die Männer vom Kirchenchor verabschieden sich. Jetzt geht es quer über die Strasse in den “Löwen“. Singen macht durstig. Das Repertoire ist übrigens noch immer dasselbe. Rasch wird es wieder ruhig auf dem Friedhof. Die Verwandtschaft hat sich ebenfalls in den „Löwen“ begeben. Zumindest diejenigen, die einer Teilnahme am Leichenmahl würdig waren. Und über würdig oder unwürdig entschied Tante Simona. Und sonst niemand.
Aber für mich spielt das keine Rolle. Ich bleibe noch auf dem Friedhof. Jetzt, wo es still geworden ist fällt mir auf, dass ich Grossvater nie habe weinen sehen. Nur einmal, da war er ganz anders als sonst. Leise und nachdenklich. Das war vor drei Jahren, als Grossmutter gestorben ist. Ein Dreikäsehoch wie ich hatte aber trotzdem eine ganze Menge Fragen.
- „Grossvater“.
- „Ja ?“.
- „Wohin ist denn Grossmutter jetzt gegangen ? Wohnt sie jetzt im Himmel ?“.
Im selben Augenblick überkam mich ein unangenehmes Gefühl. Die Angst, vielleicht etwas falsches gesagt zu haben. Doch nach einer kurzen Pause sah mich Grossvater an.
- „Möchtest du denn, dass sie im Himmel wohnt ?“.
- „Oh ja, das wäre schön. Aber wie ist es denn im Himmel ?“.
- „Wie stellst du dir den Himmel denn vor ?“.
Ich stutzte. Aber darüber nachdenken musste ich nicht. Ich hatte mir schon tausendmal vorgestellt, wie es im Himmel wohl sein wird.
- „Wunderschön ! Alles ist so ruhig, und die Menschen streiten nicht miteinander. Dort gibt es grüne Wiesen. Und einen riesengrossen See, mit vielen Schwänen drauf. Und immer scheint die Sonne. Und warm ist es, Tag und Nacht“.
- „Siehst du. Genau so ist es im Himmel. So, wie du dir den Himmel in deinem Herzen ausmalst, so wird er auch sein.“
- „Du meinst, alles, was ich mir vorstelle, wird im Himmel passieren ?“.
- „Alles das, was du dir reinen Herzens vorstellst. Ja.“
- Dann wünsche ich mir Kühe dort, viele, viele Kühe“.
- „Kühe ?“ fragte Grossvater erstaunt.
- „Kühe, ja, ganz viele. Grossmutter hat doch so gern warme Milch getrunken.“.
- „Hmm, da hast du recht, mein Kind. Grossmutter hat gerne warme Milch getrunken. Solange ich sie gekannt habe. Weißt du eigentlich, dass sie mich, als wir noch jung waren, ‚Gunki’ genannt hat ? Das kommt von meinem Vornamen, Gustav. Gunki. Aber das sagt man heute nicht mehr. Das ist schon sehr lange her.“
- „Du hast Grossmutter sehr lieb gehabt“.
- „Ja, das habe ich. Und dich hab ich auch sehr, sehr lieb. Aber weißt du, wenn man schon viele Jahre lang gelebt hat, so wie Grossmutter und ich, dann wird es irgendwann Zeit, Platz zu machen für euch Junge. Und dann gehen wir Alten in den Himmel. So ist das.“
- „Darf ich dich auch ‚Gunki’ nennen ?“
- „Es wäre mir eine Ehre“.
Und nun ist Grossvater auch gegangen, zu Grossmutter.
Für mich wird es langsam Zeit. Aber vorher muss ich ‚Gunki’ noch schnell erzählen, was mir letzte Woche in der Schule passiert ist. Ich bin ganz sicher: wenn ich meine Augen schliesse und an Grossvater denke, dann wird er mir sagen, was das wohl zu bedeuten hat. So wie immer.
Veröffentlicht am:
18:54:49 10.06.2007