Mein erster Schritt in die neue Freiheit

von Michael

„Nach meinen Kenntnissen ist das sofort, unverzüglich", sagte SED-Politbüromitglied Günter Schabowski am Abend des 9. November in in einer plötzlich anberaumten Pressekonferenz jene gewichtigen Worte, die auf einen Schlag ein ganzes Land verändern sollten. Geglaubt hatte ich in diesem Moment, dass nur die Menschen die Grenze überschreiten dürfen, die sich anschickten, dem untergehenden „Arbeiter- und Bauernstaat" für immer den Rücken zu kehren.

Doch da - ich wollte meinen Augen nicht trauen - öffnete sich der Schlagbaum, der dem wahnsinnigen Druck der bis in die Haarspitzen motivierten Masse, die - wie eine Dampfwalze - gegen die Barrieren drückte, nicht mehr standhalten konnte. „Ist diese neue Reiseregelung wirklich von Dauer oder entpuppt sich dieser Schritt der Regierenden wieder nur als ein vorübergehendes Strohfeuer? Meine Zweifel schienen nicht gegenstandslos zu sein. „Wäre es - ökonomisch gesehen - überhaupt machbar, dieses widerliche Sympol des „kalten Krieges" - welches das Ulbricht- Regime am 13. August 1961 errichten ließ, um der Abstimmung mit den Füßen ein für allemal einen Riegel vorzuschieben - wie ein Kartenhaus - zusammenfallen zu lassen?" Bereits in den Wochen und Monaten zuvor hatten tausende DDR-Bürger über Ungarns grüne Grenze, aber auch über die Botschaften in Prag, Warschau und Budapest Honeckers Machtbereich verlassen. Sie wollten sich nicht mehr von dieser untätigen realitätsfernen Altherrenriege bevormunden lassen. „Doch was würde geschehen, wenn hunderttausende fleißiger Menschen Vater Staat, der den Menschen zwar keine Freiheit, dafür aber Lohn und Brot gab, auf einmal von dannen ziehen würden? „Würde demnächst die blanke Anarchie Einzug halten? Oder könnte es vielleicht sogar so etwas wie Bürgerkrieg geben?", zerrieb ich mir nahezu täglich den Kopf. Doch die folgenden Bilder aus dem Westfernsehen hatten all meine Bedenken sofort zerstreut. Zehntausende Menschen strömten euphorisch gestimmt durch die geöffneten Schlagbäume, wildfremde Menschen umarmten sich, Edler Champus floss in hektoliterweisen Strömen. Kaum zu beschreiben, diese Szenen, von denen ich vor wenigen Wochen nicht mal gewagt hatte, auch nur einen einzigen Gedanken zu verschwenden. Mir kam es vor, als würde ich träumen - einen wahnsinnig- schönen Traum, der - dem Mute hunderttausender Bürger, die Zivilcourage zeigten, die auf der Straße mit der barmherzigen Kraft des Wortes, aber auch mit der Kraft des warmen friedvollen Kerzenlichtes dafür sorgten, dass dieser Traum wahr werden konnte. In jener unvergesslichen Nacht hatte ich nicht mal eine Sekunde ein Auge zugedrückt. Nur schade, dass ich dieses unbeschreiblichen, diese spektakulären Szenen wahrer Freude, die in unterschiedlichster Facetten - so wie die Tränen der Rührung und des Glückes, diese befreienden Jubelschreie aus tausenden feuchtfröhlichen Kehlen - nur am Bildschirm genießen konnte. Die Pflicht am nächsten Tag rufte, die Notwendigkeit zeitlich aus den Federn zu springen, um mein Tagwerk zu verrichten. Ich hatte das nicht so locker gesehen - so wie mancher meiner verantwortungslosen Zeitgenossen, die einfach mal blaumachten. Wo sollte das noch hinführen! Irgendwie musste es ja weitergehen, in diesem plötzlich so anders gewordenen Land. Am Sonnabend, dem 11.11. 1989, strebte ich mit meinem Schätzchen Angela - einer gut aussehenden jungen Frau mit rehbraunen Kulleraugen und langem über die Schulter fließendem Haar - in die ich mich zwei Jahre zuvor Hals über Kopf verliebt hatte - am späten Nachmittag erwartungsfroh auf den Bahnhof dieses total verödeten Städtchens zu. Bereits auf dem Weg dorthin, sah ich schon in Gedanken vor mir den farbenfrohen Kontrast zu diesen im schmutzigen Einheitsgrau dahin schlummernden Fassaden des real existierenden Sozialismus. Ich sah bereits die weltstädtischen Charme versprühende Pracht des Ku'damm's mit den zahllosen auf Schick getrimmten Geschäften, die Hotels und die lauten Kneipen, die so gut zum unwiderstehlichen Flair dieser Stadt passten, ich sah das Wahrzeichen dieser Gegend, die Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche, die ich auch nur vom Westfernsehen her kannte. Ich glaubte, ich würde spinnen. Nach fast fünfstündiger Fahrt - via Umsteigen in Dresden, fuhr unser Zug fast pünktlich in den Bahnhof „Flughafen Berlin Schönefeld" ein. Ein gigantischer Menschenstrom ergoss sich aus dem „Hungaria Express", den diese Neuweltenbummler in Dresden bestiegen hatten. Wie ein vielgliedriger Lindwurm wälzte sich die Meute die Rudower Chaussee entlang Zahllose Teenager waren natürlich total aus dem Häuschen. Manch einer von diesen wackelnden Trunkenbolden konnte sich nur noch mit allergrößter Mühe auf den Beinen halten. Da war er wieder, dieser unrühmliche Teufel Alkohol, der - wen wunderte es - in dieser Nacht keiner bändigen konnte. Ob diese benebelten Typen in ihrem Vollrausch überhaupt noch imstande wären, die Gesichter des - im östlichen Sprachgebrauch gepriesenen - „Goldenen Westens" in Augenschein zu nehmen?", fragte ich mich mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen. „Wir sind deutsch wir sind deutsch wir sind deutsch", schmetterte ein vielstimmiger Chor in die eisige Kälte dieses Herbstabendes. Waren sie es vorher etwa nicht? Natürlich waren sie alle von der Wiege an schon Deutsche. Doch das Gefühl ein richtiger Deutscher zu sein - das hatten sie nicht. Da sie nun mal Ostdeutsche waren, fühlten sie sich als Menschen zweiter Klasse und glaubten deshalb nichts wert zu sein - zumindest was den Vergleich mit westdeutschen Altersgenossen anbetrifft. Diese geballte Ladung Frust - eine Folge dieser unsäglichen Gängelei - der sich über Jahre hinweg - in der bedrückenden Enge dieser Diktatur aufgebaut hatte - entlud sich in diesen Momenten wie ein lang ersehntes Sommergewitter nach extrem heißen Tagen. Alle hatten nur ein Ziel vor Augen - den Grenzübergang „Rudower Chaussee" dessen schaurig- grelles Licht schon aus sicherer Entfernung ich unschwer erkennen konnte. Plötzlich übertönte ein Teenager diesen stimmgewaltigen Chor. „Jetzt müsst ihr aber ruhig sein!", rief er sorgenvoll aus. Hatte diese schändliche Mauer - die achtundzwanzig Jahre diese Stadt in zwei Teile zerschnitten hatte - doch noch nicht gänzlich ihren Schrecken verloren? Ich empfand es so eigenartig, so komisch, so merkwürdig, zumal die meisten auf sein Kommando gehört zu haben schienen, denn prompt - von wenigen Ausnahmen mal abgesehen - verstummten die Gesänge. Mein Herz trommelte wahrscheinlich so wild wie noch nie gegen meinen Brustkorb. Instinktiv richteten sich meine Augen auf meine Armbanduhr, die 23.45 Uhr anzeigte. Damals konnte ich noch nicht erahnen, dass dieser spektakuläre Zeitpunkt meiner persönlichen Historie, jener Tag, der - nur mal so ganz nebenbei - den Beginn des Karnevals eingeläutet hatte, auch zwei Jahrzehnte später noch unverändert in meinem Gedächtnis haften bleiben sollte. Doch vorher galt es noch, die obligatorische Kontrolle - die meine Westverwandtschaft wegen dieser endlosen Schikanen gefürchtet hatte wie der Teufel das Weihwasser - schadlos zu überstehen. Meine misstrauischer Blick hob sich nur kurz, als der Bedienstete meinen Personalausweis verlangte Doch alles halb so schlimm. Der kräftige Herr zeigte sich zumindest mir gegenüber sehr freundlich. Als er in meinen Ausweis und in den meiner Partnerin schaute, um die Identität der Fotos zu begutachten, flachste er sogar ein wenig. „Na, sie haben sich ja nicht gerade das beste Wetter ausgesucht, es ist doch ganz schön kalt". Die freundliche Art des Uniformträgers, mit der ich wahrlich nicht rechnen konnte, schwächte meinen Puls ein wenig ab, obwohl die übermäßige Aufregung, die mindestens eine Stunde vor dem Verlassen des Zuges sich mit Kribbeln in den Beinen und dumpfen Herzschlägen sich bemerkbar gemacht hatte, doch noch nicht vollends verflogen war. Geschafft!, dachte ich soeben. Doch weit gefehlt. Schließlich bot die großzügig angelegte Grenzübergangsstelle noch genügend Möglichkeiten für weitere Kontrollen. Nach der Passkontrolle leitete uns ein anderer Herr in einen engen separaten Raum. „Guten Tag, Zollkontrolle der DDR! „Wieviel Mark der DDR haben sie bei sich!" Mich übermannte in diesen Sekunden das Gefühl, mein Herz könnte in jedem Moment aus meinem Leib springen - so sehr hatte die Aufregung mich gefangen genommen. Schließlich gaben die unglaublich anmutenden Horrorgeschichten, die mir meine Verwandten mit bitterster Miene an mich herangetragen hatten, nicht gerade Anlass, Ruhe, sowohl in gemein Gemüt, als auch in das Gemüt meiner stets ein wenig naiv wirkenden Angela einziehen zu lassen. Zitternd kramte ich mein Portmonee aus meiner Jeanstasche. Erschrocken musste ich feststellen, dass ich neben hundert D-Mark aus den Händen meiner Verwandten, auch noch vierhundert Ostmark bei mir hatte, die ich am Dienstag zuvor noch von meinem Konto abgehoben hatte. Mir war bekannt, dass die Einführung von DDR-Mark in den Westen laut Devisengesetz strengstens untersagt war. Ich hatte jedoch vor Reiseantritt versäumt, das Geld aus dem Portmonee zu nehmen. Ich fingerte die vier Hundertmarkscheine aus der Geldbörse und zeigte diese misstrauisch, aber entschlossen dem Zöllner. Es war mir ja nichts anderes übriggeblieben. Unsere beiden Hände zitterten wie vibrierende Maschinenteile. „Werden die uns vielleicht sogar noch festnageln?", machte ich mir riesige Sorgen. „Normalerweise ist das verboten, sagte der Dienstherr mit überraschend freundlicher Stimme. Ich stellte mich einfach dumm und sagte: „Dieses habe ich leider nicht gewusst", floss es reumütig aus meinem Mund. „Ich bitte mein Versehen zu entschuldigen. Nun werden Sie mein DDR-Geld wohl einbehalten?" fuhr ich ängstlich wispernd fort. „Nein, das werde ich nicht. Jedoch weise ich sie darauf hin, beim nächsten Male bitte kein DDR-Geld auszuführen", sagte er ohne auch nur ein Körnchen Zorn zu versprühen. Ich empfand es als erstaunlich, dass Menschen, die einst einen rüden, einen unpersönlichen Umgangston „pflegten", von einem Tag auf den anderen imstande waren, den Schalter auf Freundlichkeit umspringen zu lassen. „War diese Freundlichkeit nur künstlich aufgesetzt oder kommt diese tatsächlich aus dem Inneren seines Herzens?", fragte ich mich im Stillen. Doch nun war endlich jener Moment gekommen, auf den wir beide über Jahre hinweg so sehnsuchtsvoll warten mussten. Im Bunde mit vielen anderen strahlenden Gesichtern durchquerten wir den Schlagbaum - beiderseits der Chaussee thronte das plötzlich unwirklich harmlos gewordene steinerne Monument deutscher Nachkriegsgeschichte. „Geschafft! - Angela es ist wahr geworden, wir sind im „sterbenden Kapitalismus", es ist wahr, wir sind tatsächlich im Westen, schrie ich mit überschäumender Freude sarkastisch aus mir heraus. Die ersten schmucken Häuser im Westen hatten auf mich - der Dunkelheit zum Trotze - Eindruck gemacht. Waren dies etwa die ersten Anzeichen vom untergehenden Kapitalismus? Angela dagegen fand vor Freude keine Worte. So verschieden können Emotionen sein! Ich empfand Berlin in jenen Tagen als die geilste Stadt der Welt und das ohne dieses berühmt-berüchtigte Wenn und Aber - möglicherweise noch viel geiler als Paris oder New York es jemals hätten gewesen sein können. Ganz Berlin war eine einzige Partymeile. Fast alle waren mit Kind und Kegel auf den Beinen. So viele freudige Gesichter auf einmal hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen. Es war das Wunder von Berlin! - ein Wunder zum Genießen, es war das Wunder der Superlative, ein Wunder, welches selbst in ferner Zukunft kaum zu toppen sein dürfte. Behalten wir es gemeinsam stets in wohliger Erinnerung! Mittlerweile füllen zwanzig Jahre deutscher Einheit die Seiten der Geschichtsbücher. Viele Wunschträume wurden wahr, manche sollten schon nach kurzer Zeit zerplatzen wie eine Seifenblase - meine persönlichen Träume leider auch, da viele Dinge nicht so mitgespielt haben, wie ich es mir einst dachte. Dennoch läuft es mir auch heute noch kalt den Rücken hinunter, wenn mir das TV die Gelegenheit bietet, diese herzergreifenden Szenen noch einmal in Erinnerung zu rufen. Ich selbst, würde mich als einen sehr sentimentalen Menschen bezeichnen, als einen, der auch schnell mal in Freudentränen ausbricht, Tränen für die man sich wahrlich nicht schämen muss. Möge der Geist jener Zeit, vor allem diese nur schwer in Worte zu fassende Freundlichkeit, diese Herzlichkeit unter den Menschen, die während und auch kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs unser Land so unglaublich lebenswert machte - dessen Lack in den Tücken des Alltags aber einen Kratzer abbekommen hat - in nicht allzu ferner Zukunft in den Köpfen und vor allem in den Herzen der Menschen wieder Einzug halten.

Veröffentlicht am:
11:28:21 17.11.2010

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