Aus Gebüsch unter dem wir liegen

Aus Gebüsch unter dem wir liegen
*
Gabelung der Zweige, zwischen den Blättern. Feine Gabelung, die nicht brach, die sich zur Seite bog, mein Auge streifte.
Ein Seebad an der Sonnenseite der Bucht. Links das freie Meer. Im Sand lagen Teufelsfinger, hinter den Ohren saßen Quarzteilchen.
Wer gab wem die Hand?
Ereignislosigkeit der Strandlandschaft. Tausende nisteten in Körben. Schräger Blick zum nebenan.
Möwenschreie und viel Weiß. Der Strand weiß im Licht. Weiß die Zähne der Damen. Das Geländer der Brücke: weiß.
*
Drei Tage noch. Zum Strand führte ein Kiesweg. Hartes Knirschen. Der herrische Zug in den windbewegten Pappeln. Wasser trieb heran. Die Promenade, ein Betonpfad, war nun Beute der kabbeligen morgengrauen See. Ich holte mir nasse Füße. Ausgebleicht war der Strandkorb, in den ich flüchtete. Das Leinen klebte auf der Haut.
Ich dachte an das Mädchen vom Tennisplatz. Ihre Bälle gingen vorbei, sprangen ins Nirgendwo. Die Balljungen brachten sie zurück, drei umspannt in einer Hand.
„10 Uhr“ – die Lautsprecher ertönten – „hier ist die Kurverwaltung. Luft 22 Grad, Wasser 19 Grad. Wir wünschen einen erholsamen Tag. Ende der Durchsage.“
Da sah ich sie kommen, im Anorak, in dreiviertellanger Cordhose. Sandalen an den Füßen. Sie stellte sich ans Geländer. Der Wind bauschte ihr kurzes Haar auf. Blaß waren ihre Lippen, gaben die Zähne frei, die nicht ganz in der Reihe standen. Hinten ragte das Steilufer auf mit einem Schopf au Wald und Strauch.
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Wie hieß das Mädchen?
Eva.
Was tat sie?
Sie schob die Unterlippe vor und pustete den Haarzipfel aus der Stirn, wenn es heiß war.
Die kaufte schokoladenüberzogene Eiswürfel.
Urtümlich, kreuz, quer, standen ihre Haare, als sie nach dem Schwimmen die Kappe abriß.
Sie gab mir ihre Kamera und ich filmte. Ich sah sie im Sucher. Sie lief über den Kies, verlor eine Sandale, bückte sich. Naheinstellung, Augen groß, mit dunklen Pupillen, und dann, enorm, der Schlag der Wimpern.
Ich sah sie, sie hatte die Hand auf der Stirn. Mit dem Fingernagel blieb sie an einem Blatt Schorf hängen zwischen den Augenbrauen.
Ich kann nicht anders, sagte sie, ich kratze die Stelle immer wieder auf.
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Abends schrieb ich ihr einen Brief: Täglich und in jeder Stunde, im Gewühl und wo wir einsam sind, aus Gebüsch unter dem wir liegen, zwischen den Werkzeugen unserer Arbeit . . . – so zitierte ich aus einem Buch aus dem Frühjahr 1905.
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Am nächsten Morgen waren wir die ersten am Kurhaus. Das Meer lag im Regengeprassel. Die Strandkörbe standen wie gescholtene Kinder.
Wir liefen auf die Brücke. Wir stellten uns dicht gegen einen Pfahl. Eva zog den Brief unter dem Anorak vor. Die Schrift lief auseinander.
Laß es regnen, sagte ich. Sie blickte hoch, blies die Wassertropfen von der Nase.
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Auf Stufen stiegen wir in die Schlucht.
Unten lagen Steine im Wasser, auf die wir traten. Oben hockte ich mich vor Eva hin und legte die Aufschläge ihrer Cordhose nach unten: Jetzt kommen Brennesseln.
Eva tauchte als erste ins Unterholz. Klatschen der Zweige. Dann kam das Hohe Ufer. Eva saß am Rand. Ich rückte neben sie. Der Boden brach hier ab. Baumwurzeln ragten heraus. Wir beugten uns vor. Mauerschwalben flogen aus ihren Löchern in der Steilwand.
Wirklich wenig Platz, sagte ich und drückte Eva ins Gras. Die Blätter des Gebüschs trafen mich, die Zweige drückten sich weich an meine Augen.
Eva drehte den Kopf. Weich traf mich ihr Mund. Die Innenseiten ihrer Lippen öffneten sich nass.
Ich löste ihre Sandalen.
Bitte nicht, sagte sie, ich bin so kitzlig.
Du bist unkonzentriert, sagte ich und küsste sie.
Sie hielt die Augen offen, folgte dem Spiel der Zweige, ihrem Hin und Her. Im Frühling hab’ ich noch Zöpfe gehabt, sagte sie. Sie fehlen mir manchmal, ich greife hin, und da ist nichts.
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Eva hatte sich hinausgestohlen. Wir schwammen nachts.
Mein Herz stolpert, sagte sie. Ich trug sie an Land. Herunter mit dem nassen Zeug. Der Strandkorb knirschte. Ich rieb und rüffelte. Ich trocknete die Ohrmuscheln, die Haarspitzen im Nacken, die Kniekehlen, das dunkle Dreieck.
Sie schüttelte den Kopf.
Sind das deine Strümpfe? fragte ich und hielt die unwahrscheinlich kleinen Ringelsocken hoch.
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Vor meiner Abreise ging ich in ihre Pension.
Sie stand in der Teeküche. Bisschen eng, sagte sie und zog an der kurzen Hose. Sie sah wie ein Junge aus. Soll das Tee sein? Fragte ich und blickte in die Kanne.
Sie antwortete. Teemachen, Tennis spielen und Tanzen sind die drei Kulthandlungen, die uns in dieser götterlosen Zeit geblieben sind. Zitat aus ihrem klugen Buch.
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Wir wussten, dass es das letzte Mal war.
Wassertropfen schwirrten vom Paddel.
Eva lag heruntergerutscht. Der Strand blieb weit zurück. Ich begann, die seitlichen, stoffüberzogenen Knöpfe aufzuknöpfen. Um 12 Uhr fährt der Bus, sagte ich. Ich beugte mich über sie.
Ich tu Ihnen nicht weh, sagte sie.
Ich küsste sie.
Dicht vor meinen Augen war ihr Handgelenk mit der wasserdichten Uhr. Ich sah auf das Spinnenbein des Sekundenzeigers, wie er zuckte.
Eva scheuerte mit den Füßen an der Bootswand. Um 12 Uhr fährt Ihr Bus, sagte sie, ich paddle mit.
Ich wischte Eva das Salz vom Rücken.
Rasch hin und her drückte die Spitze des Bootes durchs Wasser.
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Als ich in den Bus stieg und mich umdrehte, blickte sie zu mir hoch: Was sind Sie eigentlich von Beruf?
Kaufmännischer Angestellter.
Ich dachte, Sie studieren oder so.
Der Bus fuhr an, fuhr ein Stück auf der Strandstraße, wendete, fuhr en Deich hoch und verschwand.
*
Am Sonnabend nach Büroschluß lag ich in Övelgönne an der Ufermauer. Der Sand war weißgrau, mit Steinkohlenstückchen und Holzslittern durchsetzt.
Ich las Evas Brief: Ich sitze im Strandorb. Habe heute morgen allein gepaddelt, aber nicht wie ein Verbrecher den Ort der Tat aufgesucht. Ich reiße grad Weintrauben einzeln mit den Zähnen ab. Nichts ereignet sich. Der Sand türmt sich tatenlos. Ab und zu geistert die Stimme eines Kindes durch die Stille. Ende der Durchsage. Eva.
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Für Sie, sagte die Lotsenfrau zu mir, ich ging zum Telefon, stand barfuß. „Hier spricht die Badeverwaltung“ kam es gedehnt aus dem Hörer. Eva nannte mir eine Adresse. Ich wohne bei einer Freundin, sagte sie.
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Das Haus, an dem ich hochblickte, war düster. Im Treppenhaus gußeiserne Geländer. Im 4. Stock klingelte ich. Eva öffnete. Sie trug einen weißen Niki. Ihr Haar noch noch kürzer geschnitten.
Sie zog einen Wettermantel über.
Neu, sagte sie.
Eine tolle Farbe, sagte ich, wie welkes Eichenlaub.
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Wir tanzten. Nebenan breiteten sich Wasserrosen aus. Wir sahen den durchsichtigen Fahrkorb des Aussichtsturms nach unten gleiten.
Da erloschen die Scheinwerfer. Die Tanzkapelle verstummte. Riesenknall der Eröffnung. Wir blickten hoch. Giftgelbe und zyanblaue Farben regneten nieder. Feuerwerkskörper stiegen auf. Sie pfiffen, sie öffneten sich in der Luft, Sterne verspritzend. Durch den Busch neben uns zog milchiger Nebel. Widerlich, dieser Chemiegeruch, sagte Eva, ich mag so etwas nicht.
Wir tanzten wieder, sehr langsam, der Trompeter war aufgestanden. Eva sprach an meinem Ohr: In der „Bar Tourismo“, in Riccione, da war auch so ein Trompeter, - er nahm den Topf heraus, setzte an -, wir aber gingen, auf der ‚Viale Dante’, und nachher, im ZANARINI, hörte ich noch den Schrei der kleinen, blitzenden Trompete . . .
*
Ich sah nach oben in den Lichtschacht. Teerige Streifen zogen sich über das Drahtglas.
Bist du im nächsten Sommer wieder an der See? fragte ich. Ich gehe nach dem Abitur vielleicht auf die Uni, sagte Eva.
Ich möchte wissen, wie du zu Hause lebst, sagte ich. Ist es wichtig? fragte sie, schloß die Wohnungstür auf. Sie gab mir die Hand. Auf dem Hohen Ufer . . .
Ja, Eva?
Auf dem hohen Ufer habe ich mein Taschentuch verloren.
*
Bei uns war ich ausgesperrt. Ich ging durch die Garageneinfahrt und kam auf das Nachbargrundstück. Dort stieg ich auf eine Mülltonne und zog mich über die Mauer. Drüben fiel ich in einen Holunderbaum, brach mit ihm hinab. Ich war nun hinter unserem Haus, öffnete die Balkontür, legte mich in der Küche schlafen.
*
Verlassen lag das Hohe Ufer. Über dem Meer, das ruhig war, und über den Mauerschwalben, die schwiegen, lag zwischen Grasbüscheln unter Gesträuch das Taschentuch mit dem hellblau eingestickten „E“. Der Regen nässte es, es gilbte im Sonnenlicht, schmutzig lag es im Schnee.

 

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