du bist mein papa

hallo, papa, wo bist du gerade?
im seelenhimmel? oder auf erden,
in einem anderen körper?
ich weiß es nicht. ich weiß auch nicht,
ob es wichtig für mich ist.
ich weiß nur:
ich habe gerade das bedürfnis,
dir nahe zu sein –
nach all den jahren der distanz.

du hast mich vor langer, langer zeit sehr verletzt…
bis ich eines tages dahinter kam und begann,
dich zu verletzen,
nicht aus rachsucht,
sondern aus der not heraus,
distanz zu dir zu brauchen.
die distanz habe ich bekommen,
aber ich habe dich auch
mehr und mehr verloren,
bis du schließlich ganz gegangen bist.
auch das war für mich damals eine befreiung.

heute, nach über zwanzig jahren
bedeutet dein fortgehen für mich
einen großen verlust.
ich kann dich nur noch auf alten bildern sehen,
kann mich an dich erinnern,
aber ich kann dich nicht mehr
in meine arme nehmen,
dich und deine nähe nicht mehr spüren,
deine stimme nicht mehr hören.
das bedaure ich sehr.
aber vielleicht habe ich eines tages die gelegenheit,
mit dir in kontakt zu treten.
gerne würde ich dir einiges von mir erzählen
und auch wissen, wie es dir inzwischen ergangen ist,
denn du bist mein papa.

man hat nur einen menschen auf der welt,
zu dem man papa sagen kann.
auch wenn viel schlimmes
zwischen und hinter uns liegt:
du bist mein papa.
du hast mir im auepark
das fahrradfahren beigebracht
und warst so stolz auf mich,
dass ich es so schnell gelernt habe.
und ich kann heute voller stolz sagen,
dass du mir das radfahren beigebracht hast.
das war lange zeit für mich
das einzige ereignis in meinem leben,
das ich positiv mit dir verbinden konnte.

aber ich bin auch noch auf etwas anderes stolz:
viele missbrauchsopfer nennen ihre väter,
die sie missbraucht haben, oftmals „erzeuger“,
um sich emotional von ihnen zu distanzieren.
das habe ich nie getan,
weil es mir immer absurd vorkam,
und auch deswegen nicht, weil ich wollte,
dass menschen erfahren, dass ich dieses leid
durch einen elternteil erfahren habe,
also durch jemanden,
der mir früher mal unheimlich nah war,
näher als kaum ein anderer mensch.
ich habe gehofft, dass sie so das ausmaß
des vertrauensmissbrauches begreifen,
das mir durch dich widerfahren ist.
nun ja, sei’s drum.
für mich warst du jedenfalls immer mein vater,
ob in guten oder schlechten tagen.
und für mich brechen langsam
wieder gute tage mit dir an.

seit ich dir letztes jahr den missbrauch verzeihen konnte,
hat sich einiges verändert in meinem leben:
die schmerzen in meinem rechten knie
haben stark nachgelassen,
ich habe kaum noch alpträume mit dir,
ich denke öfter an dich,
insbesondere an unsere
gemeinsamen schönen momente im leben
wie das fahrradfahrenbeibringen
oder die tollen zeiten in afghanistan
und während der fahrten durch indien.

ich denke wieder öfter an dich,
denn du bist mein papa.
und ich verzeihe dir das, was passiert ist,
immer wieder auf’s neue,
um meine neuen gefühle für dich
regelmäßig zu bestärken.
vielleicht kannst du mir
mein wütendes und aggressives verhalten
vor fünfundzwanzig jahren dir gegenüber
auch irgendwann verzeihen;
das würde mich sehr freuen.

als du dich vor etwa einem jahr
bei ina gemeldet hast,
hast du mir durch sie bestellen lassen,
dass du bei mir bist, mich beobachtest
und stolz bist auf den weg,
den ich seither gegangen bin.
das hat mich wahnsinnig gefreut.
damit hatte ich nie im leben gerechnet.
umso glücklicher war ich,
als ina es mir von dir bestellte.

ich bin heute sehr froh und glücklich darüber,
dass ich nach 26 jahren wut und hass
heute keine energie mehr
in diese gefühle verschwenden muss
und mich stattdessen der wiedergutmachung
und normalisierung unserer gemeinsamen
vater-sohn-beziehung widmen kann, denn:
schließlich bist du mein papa…

ls.09.06.2017

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