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Freiheit, die ich meine

Freiheit, die ich meine

Von Dr. Hartmut Grebe am 8. Juni 2015

 

Der Autor Hartmut Grebe führt ein deutsch-amerikanisches Leben, arbeitete und wohnte lange Jahre hier wie dort. Sein autobiographischer Bericht zeigt, wie er sich mit Offenheit und innerer Wendigkeit von zermürbenden Ansprüchen der Eltern und Gesellschaft befreite, sein Potential allen zum Trotz erproben und entwickeln konnte.

 

Mein größtes Problem während meiner Jugendzeit war die Langeweile – in meiner Familie und während der Schulzeit. Meine Mutter interessierte sich für drei Dinge an mir: Hat er genug gegessen? Ist er fieberfrei? Hat er seine Schulaufgaben gemacht? Dem entsprach später: Hat er erstklassige Schulnoten? Alles andere hielt sie für weniger wichtig. Mein Verhalten und Benehmen waren für sie vorwiegend entweder unvernünftig („Da musst noch viel lernen!“) oder „ungezogen“ („Du hast du dich doch bestimmt wieder schlecht benommen!”).

So setzte mein Vater eines Tages zu einem strengen Drill an. Sein Trainingsziel für mich waren: einwandfreies Benehmen, unbedingter Gehorsam und makellos moralisches Verhalten. Bei diesem hohen Anspruch war es nicht verwunderlich, dass er in allen drei Punkten weitgehend das Gegenteil erzielte. Im Sinne der Vorstellungen von Schreber, des berüchtigten Pädagogen des 19. Jahrhunderts, setzte sich bei mir “das Böse” durch. Da meine Eltern strikt nach der damaligen Literatur, erst über Säuglings- und dann über Kindererziehung, vorgegangen waren, also alles richtig gemacht hatten, blieb nur die Erklärung, dass ich mißraten war, sie sich also einem Schicksalsschlag beugen mussten.

Am schlimmsten aber war die Langeweile. Diese setzte sich in der Schule fort. Ich hielt durch bis in die Mitte der Gymnasialzeit. Dann hatte ich das Gefühl, dass ich mit dem Ertragen von Langeweile an der Schallmauer angekommen war. Bis zum Abitur hielte ich nicht durch.

Also entweder ich breche radikal aus oder überspringe als mittelfristige Lösung erst einmal eine Klasse, indem ich mich für ein Jahr zu einem USA-Aufenthalt beurlauben lasse. Vielleicht nimmt mich sogar eine amerikanische Familie auf, und ich kann dort bleiben. Wenn nicht, könnte ich zu meinen Klassenkameraden zurückkehren und noch einmal tief Luft holen für den Endspurt zum Abitur. Dieser Plan war wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die abenteuerlichste Lösung. Ich bekam vom Schuldirektor die Erlaubnis und fuhr los ins Ungewisse.

Solche zentralen Erfahrungen in meiner Jugendzeit setzten sich bei mir in eine panische Angst sowohl vor einem Familienleben als auch vor einem Berufsleben um. Beides bedeutete ja potentiell ‚lebenslänglich’.

Derartige Grunderfahrungen in der Kindheit sitzen häufig so fest, dass sie praktisch “fest verdrahtet” sind, um einen Computervergleich zu benutzen. Man ist sich ihrer nicht einmal bewusst. Gute Ratschläge von anderen wie: “Nun ergreife doch endlich mal einen Beruf!” Oder: “Eine Familie muss nicht so sein wie deine eigene!” sind nutzlos. Emotional weiß man dann nicht einmal, von was die anderen reden. Rational sieht man nur, wie andere in unglücklichen Konstellationen leiden. Ich habe immer bei der Beteuerung von Geschwisterliebe oder Elternliebe gestutzt und versucht mir vorzustellen, wie sich so etwas anfühlen könnte.

So habe ich den größeren Teil meines Lebens hinter einer Maske gelebt. In der Schule habe ich den angehenden Altphilologen gespielt, an der Technischen Universität Berlin den humanistisch vorgebildeten Homo faber und nach der Promotion den Ingenieur mit breitem naturwissenschaftlichen Hintergrund. Die Vorstellung, dass man an einem Beruf Freude haben könnte, war mir fremd. Ich dachte, dass ich überall die akademischen Meriten erwerben müsse, damit die Gesellschaft mich mit Geld und Ansehen belohne. Eigene Antriebe, Impulse und Begeisterungen würde die Gesellschaft nicht honorieren.

Als ich aufgrund meiner Dissertation als Visiting Assistant Professor an die amerikanische Elite-Universität Massachusetts Institute of Technology (MIT) eingeladen wurde, hatte ich ein weiteres Mal eine Schallmauer erreicht. Ohne dass es mir richtig bewusst geworden war, war ich mit meiner Dissertation an die Spitze meines damaligen Fachgebietes vorgestoßen (digitale Signalverarbeitung). Jetzt unter den Weltbesten, wurde mir klar, dass ich ohne anhaltende Begeisterung und kompromisslose Hingabe auf diesem Niveau nicht weiter konkurrieren könnte.

Schließlich zog ich weiter nach Kalifornien, dem gelobten Land der Aussteiger, und wurde Fluglehrer. Das erste Mal in meinem Leben, dass mich eine Berufsarbeit begeisterte.

Ich bin zweimal in meinem Leben an den beiden Gebieten vorbeigeschrammt, die für mich Begeisterung und Kompetenz zusammenbrachten: Luftfahrt und Psychotherapie. Diese Paarung erscheint auf den ersten Blick merkwürdig. Doch war es beim Flugtraining, als ich merkte, dass ich bei meinen Schülern Persönlichkeitseigenschaften trainieren und festigen konnte. Das schlug später den Bogen zur Psychotherapie. Joseph Conrad sah die Seefahrt als eine Verdichtung des Lebens und somit die Bewährung auf See als wirkungsvolles Lebenstraining. Das gilt auch für die Luftfahrt.

Mit der Zeit fiel mir auf, dass einige meiner Schüler im
Laufe des Flugtrainings erstaunliche Persönlichkeitsänderungen durchmachten. Meine Schüler brachten von zuhause ihren gewohnten Stil der Lebensorganisation mit, zum Beispiel, dass sie eine bedenkliche Entwicklung eines ihrer Kinder nicht ernst nahmen und diese auf vorübergehende Entwicklungserscheinungen schoben oder dass sie eine sich verschlechternde Partnerbeziehung nicht zu einer Zeit reparierten, als dies noch möglich war, oder aber dass ein befreiender Berufswechsel aufgeschoben wurde, bis ein Neuanfang schwierig oder unmöglich wurde.

Beim Fliegen lernen die Schüler es dann unter dem Druck potentieller Lebensgefahr, sofort und souverän Entscheidungen zu treffen und allgemein dem Leben aktiv und proaktiv gegenüberzutreten. Das prägt. Die Flugschüler üben ein: ständige Umsicht und Übersicht, schnelle Einschätzung der Lage und sofortige Entscheidung, auch über die Priorität der jeweiligen Sache, d. h., ob eine Maßnahme sofort ergriffen werden muss oder eine andere im Augenblick noch wichtiger ist. Dabei muss der Flugschüler laufend die Fluglage der Maschine (aircraft attitude), Höhe und Kurs sowie Luftraum und Navigation im Auge behalten. Dazu darf er sich nicht ablenken lassen, sei es durch schöne Landschaft, sei es durch ein Problem, das seine Frau im Nebensitz gerade diskutieren will, sei es durch einen Prüfer, der absichtlich stört, weil er die Resistenz des Prüflings gegen Ablenkungen testen will.

Auch an mir selbst entdeckte ich Persönlichkeitsänderungen, die mich überraschten. Ich hatte mich vor den Schreberschen Erziehungsmethoden meiner Eltern nur durch eine radikale frühe innere Abnabelung retten können. Dadurch habe ich auch von ihnen kein Wertesystem übernommen.

Entsprechend waren meine moralischen Vorstellungen: Betrug gegenüber dem Staat oder der Gesellschaft war nicht nur in Ordnung, sondern sogar ein ausgesprochenes Erfolgserlebnis. Diese Grundhaltung wurde noch einmal verstärkt durch das Erlebnis des Endes des Zweiten Weltkrieges.

Ich war als Kind ein früher Zeitungsleser. Die Tageszeitung in Tübingen war das „Schwäbische Tagblatt“. Sein Tenor im Krieg war gewesen: Leute wie Churchill und Roosevelt waren die Kriegstreiber und allgemein die verwerflichen Charaktere. Die Nationalsozialisten präsentierten sich selbst als Aufrechte, die in einem heldenhaften Kampf das Gute verteidigten. Als bei uns die Front durchging, hat das Blatt nur 3 Tage ausgesetzt und erschien dann wieder mit demselben Kopf des Titelblattes, derselben Aufmachung und derselben Type. Der Unterschied war aber, dass die Charakterisierung der genannten Leute jetzt genau umgekehrt war. Es war, als sage jemand: „Mal herhören, Kinder, es hat da eine Verwechslung gegeben. Die Guten sind jetzt die Bösen, und die Bösen sind jetzt die Guten.“ Nicht dazu angetan, Respekt vor der Gesellschaft zu erzeugen.

Während ich nun Piloten ausbildete, machten nicht nur meine Flugschüler unerwartete Persönlichkeitsänderungen durch, sondern auch ich selbst. Zu meinem Erstaunen entwickelte ich ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber meinen Flugschülern, das sich auch auf ihre seelische Verfassung erstreckte. Einmal setzte bei einem Flugmanöver (stall recovery), das zum Trudeln des Flugzeugs (taumelnder freier Fall) führte, der Motor aus und ließ sich nicht wieder starten. Als die Maschine nach einer abenteuerlichen Notlandung zum Stillstand gekommen war, sah ich zu meinem Flugschüler hinüber. Er war kreidebleich und vom Schock gezeichnet. Ich sagte in ruhigem Ton, als ob nichts passiert sei: „Gerade haben wir eine Notlandung gemacht. Lass uns diskutieren was gut und was schlecht lief.“ Sofort wurde seine Gesichtsfarbe wieder gesund rot, und er beteiligte sich lebhaft an der Diskussion. Er wollte am nächsten Tag wieder fliegen.

Auch das Erfliegen der atemberaubenden Landschaften des Südwestens der USA war ein Fest der Freiheit. Als ich durch den Grand Canyon flog (heute verboten), entdeckte ich in einem tiefen Seitencanyon eine kleine Ansiedlung. Es stellte sich heraus, dass in dieser Einsamkeit der Stamm der Havasupai lebt, der Rest eines stolzen Stammes, der einst den gesamten Canyon mit seinen Absätzen und der angrenzenden Hochebene bewohnte. Der Stamm musste dem Grand Canyon National Park weichen und verfiel zu einem kläglichen Rest an Stammesmitgliedern, der mühsam überlebt. Später stieg ich mit meiner Frau hinab zu diesem Stamm in den Havasu Canyon. Dieses Erlebnis regte meine Frau dazu an, ein Reiseunternehmen aufzubauen, das heute Gruppen aus den deutschsprachigen Ländern zu nordamerikanischen Indianerstämmen führt, die noch einen Rest ihrer Kultur retten konnten.

Einmal flog ich mit einer Freundin die Küste Mexikos hinunter, um einen schönen Strand mit dem labend warmen Meerwasser dieser Breitengrade zu suchen. Wir landeten am Strand vor einer augenscheinlich völlig leeren Wüstenlandschaft. Plötzlich erschien eine bedrohliche Gruppe mexikanischer Jungen. Eine geringe Beschädigung unseres Flugzeugs hätte es fluguntauglich machen können. Ihr Ton war bösartig. Ich hörte mehrmals das Wort „Gringo“ (abfälliger Ausdruck für einen Yankee). Ich dachte, vielleicht hilft es, wenn ich sie in diesem Punkt aufkläre und sagte: „Soy alemán“ (Ich bin Deutscher). Zu meinem Erstaunen änderte sich die Stimmung schlagartig. Sie behandelten mich nun mit Ehrfurcht und verabschiedeten sich höflich. Als Deutscher mit Respekt bedacht zu werden, war wohltuend in einer Welt, in der Deutsche sich an die Brust schlagend durch die Welt laufen und „mea culpa“ rufen – und gerade deswegen als zweitklassig behandelt (oder ausgenutzt) werden.

Sowohl meine Begeisterung für Luftfahrt als auch für Medizin (Psychotherapie) wurden mir erst spät im Leben klar. Ich stieß auf beide Gebiete scheinbar zufällig, jedenfalls ohne Planung und ohne eine Berufsabsicht. In der Psychotherapie hatte ich in den USA eine spezielle Ausbildung durchlaufen, deren therapeutischen Ansatz ich später auch in Deutschland einsetzte. Als in Deutschland die Ausübung von Psychotherapie an gewisse universitäre Anforderungen geknüpft und die Bezeichnung Psychotherapeut geschützt wurde, war ich mit der Notwendigkeit einer erneuten Universitätsausbildung konfrontiert. Dafür war ich inzwischen zu alt, zumal ich mir von einem einschlägigen Studiengang nichts an einsetzbarer Praxis versprach. Und nun war ich auch zu alt für eine Karriere in der Luftfahrt.

Ein Zufall kam mir zu Hilfe. In einem internationalen technischen Ausbildungsprojekt des Verteidigungsministeriums stand ein diplomatischer Eklat ins Haus, bei dem Köpfe gerollt wären. Wie verzweifelt die Leute waren, ließ sich daran erkennen, dass sie sich wegen eines Projektleiters an das Münchner Arbeitsamt wandten. In einer solchen Situation wird fast jeder genommen, der selbstsicher sagt: „Ich löse Ihr Problem; es kostet Sie so viel.“ Später erfuhr ich, dass niemand annahm, dass das Projekt noch zu retten war. Ich war aufgrund meines Dr.-Ing. als „Schwarzer Peter“ angeheuert worden (the Fall Guy). Als ich das Projekt jedoch erfolgreich zu Ende führte, wurde ich als Wunderwirker angesehen.

Mit der Zeit bekam ich den Ruf eines Katastrophenmanagers, der unrettbar erscheinende Situationen doch noch hinbiegt (und dem betreffenden Beamten oder Manager den Job rettet). Das erforderte Einfallsreichtum, eiserne Nerven und oft Nichtbeachtung von Vorschriften oder Gesetzen. In manchen Fällen wollte der verantwortliche Manager nicht wissen, wie ich zu dem ihn rettenden Ergebnis gekommen war, um bei Aufdeckung glaubhaft Ahnungslosigkeit beteuern zu können.

Auf der einen Seite mein Ruf und auf der anderen meine Bereitschaft, wenn nicht Frechheit, Aufträge anzunehmen, die auch mir selbst undurchführbar erschienen, verstärkten sich gegenseitig. Diese Dynamik setzte bei mir eine Kombination von Kreativität und Kühnheit frei, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Später traf ich andere Leute, die von ähnlichen Erfahrungen berichteten. Eine solche Kette an Projekten muss man allerdings aufrecht erhalten. Denn wenn sie abbricht, hat man kaum die Chance, dass einem noch einmal das Glück einer solchen Initialzündung widerfährt.

Lange wusste ich nicht richtig, was ich sagen sollte, wenn jemand mich nach meinem Beruf fragte, bis eine meiner Kusinen mich als „Gelegenheitsarbeiter“ bezeichnete. Danach beantwortete ich die Frage nach meinem Beruf mit: „Ich habe keinen.“

Ich habe auch die Freiheit genossen, die mir diese letzte Phase geboten hat. Der Wechsel zwischen herrlicher freien Zeit und wildem Tag- und Nachteinsatz kamen meinem Lebensstil entgegen, mit dem ich die Zwänge vermieden habe, die mir als Kind die Erwachsenen angedroht hatten.

Dr. Hartmut Grebe

Dr. Hartmut Grebe hat 20 Jahre lang in den USA gelebt, an Universitäten geforscht und im Silicon Valley gearbeitet. Außerdem betreibt Dr. Grebe die Webseite www.lebensschmiede.com

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